VorwortEines der zentralen Werke der 1984 gegründeten Geschichtswerkstatt Marburg e.V. ist das Gedenkbuch "'unbekannt verzogen oder weggemacht' - Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933-1945", das 1992 erschien. Barbara Händler-Lachmann und Ulrich Schütt haben darin Kurzbiografien der jüdischen Bevölkerung des Landkreises um 1939 zusammengetragen und sie dem Leser auch durch Fotos von den so genannten Kennkarten näher gebracht.
Seit 2002 erinnert die Geschichtswerkstatt Marburg e.V. regelmäßig am 6. September an die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Stadt und Landkreis Marburg am 6. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Am 8. Dezember 1941 war ein Teil der jüdischen Bevölkerung bereits in das Ghetto Riga und am 31. Mai 1942 über Lublin in das Tötungslager Sobibor deportiert worden. Nur wenige Jüdinnen und Juden wurden nicht aus ihrer Heimat verschleppt. Nur Wenige überlebten.
Auf die Verschleppung der Sinti-Bevölkerung am 23. März 1943 nach Auschwitz sei hier ausdrücklich hingewiesen. Dieser Völkermord, in der Romanes-Sprache als Porajmos bezeichnet, wurde in diesem Zusammenhang nicht bearbeitet.
Die Erinnerung an die Menschen, die keineswegs "unbekannt verzogen" oder "weggemacht" sind - die bagatellisierende Beschreibung der Deportationen durch die Zeitzeugen - sondern unter Billigung und Mithilfe der Bevölkerung und mit einer bestens organisierten Bürokratie in den Tod verschleppt wurden, ist und bleibt Verpflichtung.
Da sich seit Erscheinen des genannten Buches 1992 neue Erkenntnisse zum Schicksal der Deportierten ergeben haben und vor allem die Qualität der abgebildeten Fotos nicht optimal ist, wurden in einem Projekt der Geschichtswerkstatt Marburg e.V. die Daten der Jüdinnen und Juden, die in den drei Deportationen aus Marburg und dem damaligen Landkreis Marburg verschleppt wurden, in diesem Digitalen Gedenkbuch erfasst. Die Idee entstand im Zusammenhang mit der Buchpublikation "Von der Ausgrenzung zur Deportation in Marburg und im Landkreis Marburg-Biedenkopf, ein Gedenkbuch der Universitätsstadt Marburg, des Landkreises Marburg-Biedenkopf und der Geschichtswerkstatt", das 2017 erschienen ist.
Der Altkreis Biedenkopf wurde nicht bearbeitet. Der Ort Nordeck gehörte bis 1974 zum Kreis Marburg und liegt heute im Kreis Gießen, die Orte der heutigen Kommune Münchhausen kamen erst 1974 zum heutigen Kreis Marburg-Biedenkopf.
Genannt werden die Menschen, die in den drei Deportationen vom Marburger Bahnhof aus in die Ghettos und Vernichtungslager verschleppt wurden. Diejenigen, die flüchten konnten, in andere Orte ziehen mussten, die nur eine gewisse Zeit in der Region gelebt haben, sind zunächst unerwähnt. Die Vervollständigung der Kurzbiografien soll der nächste Schritt sein.
Die Fotos aus der Kennkarte machen einen großen Anteil des Digitalen Gedenkbuches aus. Die Kennkartenpflicht, die Pflicht einen Inlandausweis zu besitzen, wurde Ende 1938 gesetzlich festgelegt. Betroffen waren wehrpflichtige Männer und die Jüdinnen und Juden, deren Ausweis mit einem roten "J" versehen war. Ausstellende Behörden war die zuständige Ortspolizeibehörde oder das Landratsamt. Neben dem Antrag auf einem DIN A4 Blatt mit Foto (siehe z.B. bei Sally Ziegelstein) wurde eine Kennkarte für den Ausweispflichtigen ausgestellt, ein DIN A 6 Format aus leinenverstärktem Papier, die geklappt werden konnte. In der Behörde verblieb ein Duplikat auf einer Pappkarte. Reste dieser Behördenkarteien befinden sich heute in den Archiven. Im Hessischen Landesarchiv - Hessischen Staatsarchiv Marburg befinden sich im Bestand mit den Signaturen 180 Marburg, Nr. 4851, 4852, 4853 und 4856 diese Behördenkarteikarten von den Bewohnern des Landkreises und im Bestand 330 Kirchhain, Nr. 2272 Anträge für Kennkarten. Die Bestände sind zum Großteil digitalisiert und wurden der Geschichtswerkstatt dankenswerter Weise vom Hessischen Landesarchiv Marburg für dieses Projekt zur Verfügung gestellt. In einigen Fällen wurde auf Negative aus dem Bestand der Geschichtswerkstatt zurückgegriffen, die für das Buchprojekt aus dem Jahr 1992 angefertigt wurden. Reproduktionen bedürfen der Zustimmung des Hessischen Staatsarchivs Marburg.
Für die jüdischen Bürger*innen der Stadt Marburg sind diese Karteikarten nicht mehr erhalten. Die eigentlichen Kennkarten wurden den Deportierten mitgegeben. In der Todesfallanzeige in Theresienstadt für Dr. Benno Bendedict zum Beispiel ist vermerkt, dass er durch eine Kennkarte ausgewiesen sei, die von der Behörde der Stadt Marburg ausgestellt wurde – durch den "Oberbrger", Oberbürgermeister, als Ortspolizeibehörde.
Die Namen der jüdischen Menschen wurden auch in den Kennkarten mit den Zwangsnamen "Sara" bei Frauen/Mädchen und "Israel" für Männer/Jungen versehen. Häufig sind mehrere Vornamen und/oder unterschiedliche Schreibweisen bekannt; sie werden nebeneinander in dem Gedenkbuch genannt. Die in den Zivilstandsregistern der Juden oder den Standesamtsregistern eingetragenen Vornamen stimmen nicht immer mit den Namen überein, die die Betroffenen im Alltag verwendet haben oder die ihnen von der Bürokratie gegeben wurden.
Auf der Vorderseite des Kennkartenausweises war bei den Juden "Deutsches Reich", ein "J" und "Kennkarte" aufgedruckt, bei den Nichtjuden "Deutsches Reich", der Reichsadler mit Hakenkreuz in einem Eichenkranz als Hoheitszeichen des NS-Regimes und "Kennkarte". Die Kennkarte für Juden ist einer der Bausteine der Ausgrenzung und vor allem der Kenntlichmachung in der NS-Zeit.
Dennoch zeigen die Kennkartenfotos die Menschen in ihrer Umgebung und in ihrem Alltag. Die gute Wiedergabe lässt die Bekleidung, Frisuren, Schmuck und auch die Ausstrahlung und Persönlichkeit der Fotografierten erkennen. Neben wohl professionell hergestellten Fotos wurden teilweise auch Privatfotos verwendet. Kennkarten für Kinder unter 10 Jahren mussten nicht mit einem Foto versehen werden. Rechter und linker Zeigefingerabdruck wurden auf der Kennkarte abgegeben.
Für das Digitale Gedenkbuch wurden in den Fällen, in denen es kein Kennkartenfoto gab, auf anderes Fotomaterial zurückgegriffen. Nicht für jeden Verschleppten und Ermordeten findet sich ein Foto.
Der Vorteil des digitalen Gedenkbuches gegenüber dem gedruckten Format liegt in der schnellen und einfachen Möglichkeit, Änderungen am Datenbestand vorzunehmen. Die Nutzer*innen sind hier gefragt. Wissen Sie mehr? Haben Sie Fehler gefunden? Dann wenden Sie sich an uns! Wir freuen uns über Ihre Beiträge!
Technische Realisation: Friedemann Wagner
Materialrecherche und Texte: Barbara Wagner
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