Geschichtswerkstatt Marburg e.V. Forschung für Regional- und Alltagsgeschichte![]()
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An der Gründung der Geschichtswerkstatt im Herbst 1984 war ich nicht beteiligt, auch nicht am Projekt "Stadtallendorf", zu dem Jürgen Roth gleich nach mir sprechen wird. Mein Thema sind unsere kritischen Stadtspaziergänge, Auseinandersetzung mit alten und Anstöße für neue Denkmäler in Marburg. Im Spätsommer 1986 saßen Thomas Werther und ich mit Susanne Fülberth zusammen. Unser Plan: Ein kritisches Flugblatt zum Veteranentreffen der Marburger Jäger Anfang September. Konkret: zur geplanten Ehrung am Grab Hindenburgs in der Elisabethkirche. Adressaten: die Besucher des Gottesdienstes und der Kirchenvorstand. Wir recherchierten und fanden in den Quellen ein Verbot von Kranzniederlegungen und Reden am Hindenburg-Grab durch den Kirchenvorstand, ausgesprochen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Flugblatt verteilten wir zum Antikriegstag am 1. September. Zu den "Jägertagen" 1985 waren ehemalige Gebirgsjäger vom NS-Regiment Dietl (einem der Lieblingsgeneräle Hitlers) aus Österreich erschienen, die Hindenburg zu Ehren vor der Kirche ihre Orden und Ehrenzeichen aus NS-Kriegszeiten anlegten. Nach der Kranzniederlegung am Grab in der Kirche die Lobrede von einem Oberst a.D. auf Hindenburg als "Verteidiger der Heimat", als "letztes Bollwerk gegen Hitler". Eine Freundin dokumentierte die Rede mit einem Tonband in der Handtasche. All das war Thema in unserem Flugblatt. Unser Material übergaben wir dem Kirchenvorstand. Dessen Reaktion: Er ließ das Grab mit einem Seil absperren und das Licht im Nordturm dauerhaft ausschalten. Hindenburg blieb im Dunkel. Die Kameradschaft Marburger Jäger schäumte. Sie fühlte sich doch als geachteter Teil der Marburger Stadtgesellschaft. An den "Jägertagen" und am traditionellen Preisschießen nahmen regelmäßig Oberbürgermeister und Landrat teil – egal aus welcher Partei. Der Konflikt war da. Es ging um demokratisches Geschichtsbewusstsein und Marburger Erinnerungskultur: War diese Ehrung Hindenburgs als Sieger von Tannenberg, als letztes Bollwerk der Demokratie gegen Hitler durch Veteranen des Zweiten Weltkriegs am Grab in der Kirche hinnehmbar? Wir verbanden Hindenburg mit der Diktatur der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, mit seiner Flucht aus der Verantwortung für die militärische Niederlage, seiner Dolchstoßlüge, mit seiner Rolle als Reichspräsident bei der Aushöhlung der Demokratie in der Endphase der Weimarer Republik und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Unsere kritische Sicht war damals alles andere als Konsens. Heute kann die antidemokratische Rolle Hindenburgs und die verhängnisvolle Tradition des preußischen Militarismus in der Geschichtswissenschaft als unbestritten gelten. Dass dennoch vor nicht allzu langer Zeit das Grab Hindenburgs von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung als Lernort für Demokratie mit fragwürdiger Begründung vorgeschlagen wurde, muss zu Recht als Skandal bezeichnet werden. Dankenswerterweise hat Professor Conze dagegen vehement Widerspruch eingelegt und auf Bitten des Kirchenvorstands ein Seminar zur kritischen Umgestaltung der Grabstelle veranstaltet. Wie in diesem Fall wollten wir auch zu anderen Aspekten der Stadtgeschichte nicht nur kritisch wissenschaftlich arbeiten, sondern Erinnerung vor Ort auch sichtbar und hörbar werden lassen. Schon früh hatte Ulrich Schneider von der VVN kritische Stadtspaziergänge erarbeitet und dabei auch Materialien über Verbindungen der Behringwerke zu Buchenwald vorgestellt. Ecke Deutschhausstraße/Pilgrimstein steht das 1940 eingeweihte Behring-Denkmal. Unserem Ehrenmitglied Dieter Woischke, erst kürzlich zum 100. Geburtstag mit der goldenen Ehrenadel der Stadt ausgezeichnet, wurde in den 1980er Jahren verwehrt, weitere Stadtführungen durchzuführen, nachdem er am Denkmal –sich auf Schneider beziehend – auf die (Fleckfieber-) Menschenversuche der Behringwerke im KZ Buchenwald hingewiesen hatte. Das Argument: Mit wohl aus der DDR stammenden Quellen werde der größte private Arbeitgeber Marburgs in seinem Ruf beschädigt. Inzwischen sind die Menschenversuche durch wissenschaftliche Forschungen, auch durch unser Mitglied Thomas Werther, umfassend dokumentiert. Die nach dem damaligen Betriebsleiter Albert Demnitz benannte Straße in Marbach wurde umbenannt und damit, wie schon in anderen Fällen, die städtische Ehrung NS-belasteter Personen beendet. Stattdessen gibt es heute, auch dank unserer Forschungen, einen Hermann-Jacobsohn-Weg, eine Hedwig-Jahnow-Straße und einen Marie-Luise-Hensel-Weg. Bei den Behringwerken, aber auch in vielen städtischen und privaten Betrieben Marburgs, gab es während der NS-Zeit Zwangsarbeit. Dazu wird Ulrich Schütt den Text der leider verhinderten Karin Brandes vortragen. Der Schwerpunkt unserer Forschung konzentrierte sich bald auf die Geschichte des jüdischen Lebens in Marburg, auf ihre Entwicklung, ihre Bedrohung und ihre Zerstörung in Marburg. Hier haben Barbara Händler-Lachmann, Thomas Werther, der dazu gleich selbst berichten wird, Ulrich Schütt, später Barbara Wagner und Klaus-Peter Friedrich grundlegende lokale Forschung geleistet. Ich selbst wohnte lange in einem Haus in der Oberstadt, in dem ein jüdisches Trachtengeschäft heimisch gewesen war. Die Familie konnte 1939 in die USA fliehen, verlor Haus und Besitz, an dem sich Konkurrenten bereicherten. Die Großmutter jedoch kam ins jüdische Altenheim nach Frankfurt, von wo sie nach Auschwitz deportiert und durch Giftgas getötet wurden. Um an diese Schicksale sichtbar zu erinnern, griffen wir das Projekt des Künstlers Gunter Demnig auf, den Opfern des NS-Terrors vor ihrem letzten frei gewählten Wohnort einen "Stolperstein" zu setzen. In unermüdlicher Arbeit hat Barbara Wagner Dokumente zusammengetragen, Lebensgeschichten rekonstruiert, Kontakte zu Nachkommen hergestellt, mit städtischen Stellen verhandelt, Verlegungen organisiert, bei denen auch Schulklassen einbezogen wurden. Auf der Webseite der Geschichtswerkstatt findet man Informationen zu allen Menschen, an die auf Stolpersteinen in der Stadt erinnert wird. Dort kann man auch ein im Aufbau begriffenes "Digitales Gedenkbuch" einsehen, das über die mit den Marburger Deportationen verschleppten Menschen aus Stadt und Landkreis genaueren Aufschluss gibt. Am Marburger Hauptbahnhof gibt es Gedenkbänder, die wir zusammen mit der Jüdischen Gemeinde, dem Landesverband Hessen der Sinti und Roma, der Stadt und der Bundesbahn zum Holocaust-Gedenktag 2015 einweihen konnten. Reisende finden am Aufgang zu Gleis 5 Namen und Daten der Opfer der 4 Deportationen 1941-1943 von Juden, Sinti und Roma aus Stadt und Land Marburg. "Wir gehen einen Moment mit ihnen, und sie gehen einen Moment mit uns", sagte unser Mitglied Brigitte Kettner damals. Und seit 2002 bereitet unsere Vorsitzende Lissi Auernheimer das jährliche Gedenken zum 6. September aus Anlass der letzten Deportation von Juden aus Marburg vor, das inzwischen einen festen Platz in der Marburger Gedenkkultur hat: ursprünglich an Gleis 5 des Hauptbahnhofs, inzwischen in der Nähe der Gleise an der Waggonhalle. Auch an weitere Opfer des NS-Rassismus hat die Geschichtswerkstatt mit wissenschaftlichen Beiträgen erinnert: An Frauen und Männer, die ab 1934 gerichtlich zur Zwangssterilisierung verurteilt wurden, was auch Ärzte der Marburger Frauenklinik vollzogen; an psychisch Kranke, die über die Marburger Psychiatrie an sogenannte Euthanasieanstalten überwiesen und ermordet wurden. Und schließlich die Opfer der Wehrmachtsjustiz: Ende der 1980er Jahre hat eine Gruppe aktiver Kriegsdienstverweigerer, die zur Geschichtswerkstatt fand, zur Militärjustiz im Nationalsozialismus und zum Marburger Kriegsgericht geforscht. Dabei ging es auch um eine Rehabilitierung der deutschen Deserteure des Zweiten Weltkriegs, gegen die ca. 30.000 Todesurteile verhängt worden waren. Auch das Marburger Kriegsgericht verhängte mindestens 92 Todesurteile, wovon zehn vor Ort oberhalb von Ockershausen in einer Kiesgrube vollstreckt wurden. Mit der Einweihung des Deserteurdenkmals (eines menschlichen Torsos gefesselt auf einer Panzersperre) im Schülerpark gegenüber dem Jägerdenkmal am 1. September 1989 gemeinsam mit dem DGB provozierten wir die Marburger Jäger und Teile der Öffentlichkeit: Wieder wütende Reaktionen der Jäger und ihrer Freunde vom Regiment Dietl, die auch zu diesen "Jägertagen" angereist waren: Durch das Denkmal und unsere Plakate zu den Schicksalen von Opfern der Wehrmachtsjustiz sei ihre Feldmesse entweiht, und Deserteure seien doch verachtenswerte "Kameradenschweine". Die Stadt Marburg ließ das Denkmal abräumen und zum Bauhof bringen. Es bekam an verschiedenen Orten Asyl. (Es bekam zuerst Asyl vor der ESG, dann vor dem KFZ in der Schulstraße, wurde 1997 anlässlich der Ausstellung "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht" vor dem Hörsaalgebäude der Universität platziert, gleich darauf von der Universitätsleitung wiederum entfernen lassen. Inzwischen hat es die Stadt erworben und in der Frankfurter Straße aufstellen lassen. Nach Beschluss des Marburger Stadtparlaments soll der nun endgültige Ort neu gestaltet, aufgewertet, werden. Vorausgegangen war 2009 eine wissenschaftliche Tagung von Geschichtswerkstatt und Hessischem Staatsarchiv zur deutschen Kriegsgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, verbunden mit der Ausstellung "Was damals Recht war ...". Hier rückten Fragen der NS-Unrechtsjustiz und die Rehabilitierung der Verurteilten endlich ins Licht der Öffentlichkeit. Doch mit den Marburger Jägern war es nicht zu Ende: Im Zuge der Querelen um ein privat errichtetes Jägerdenkmal in Bortshausen, im Besitz der Kameradschaft Marburger Jäger, beauftragte das Stadtparlament die Geschichtswerkstatt, deren Geschichte und Traditionsbildung wissenschaftlich zu untersuchen. Das Ergebnis: Unsere Stadtschrift von 2014 dokumentiert die Beteiligung von Jägern an der Niederschlagung der Pariser Commune 1871, im Zuge der Kolonialkriege die Beteiligung an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China und am Völkermord an den Herero und Nama in "Deutsch-Südwest". Beim Überfall auf das neutrale Belgien 1914 verübten die Jäger ein Massaker an der Zivilbevölkerung und Freiwillige der Jäger töteten in Grenzkonflikten im Januar 1919 in Polen streikende polnische Arbeiter. Das Denkmal für die toten Jäger im Schülerpark wurde 1923 eingeweiht im Geist der Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Dies alles veranlasste die Stadt, einen Wettbewerb für eine Gedenkinstallation auszuschreiben, in der am Jägerdenkmal auch der Opfer ihrer Taten gedacht werden sollte. Der realisierte Entwurf "Verblendung" umstellt nun das Jägerdenkmal mit rostenden Metallstelen, an denen Tafeln an Verbrechen und Opfer erinnern. Ein kritischer "Denkmaldialog" statt Vergessen. Und auch zu einem weiteren Geschehen gibt es inzwischen eine Gedenktafel: An der Mauer der Alten Universität Richtung Rudolphsplatz wird der Opfer des Massakers von Mechterstädt gedacht: Kurz nach dem Kapp-Putsch 1920 wurden 14 Arbeiter aus Thal von Mitgliedern des Stukoma, bewaffnete Marburger Verbindungsstudenten, darunter die auch heute noch aktive Burschenschaft Germania, verschleppt und ermordet. Forschungen von Mitgliedern der Geschichtswerkstatt haben hier nicht nur das historische Geschehen rekonstruiert, den antidemokratischen, oft auch antisemitischen Charakter dieser Studentenverbindungen von damals nachgewiesen, sondern zum elitären, männerbündischen, teilweise auch rechtsradikalen Charakter heutiger Verbindungen gearbeitet. Darüber wird Michael Lemling berichten. Unsere Forschungen waren sicher ein Beitrag zum Verbot des "Marktfrühschoppens" und zur Klärung unter den Burschenschaften selbst. Zumindest drei Marburger Burschenschaften sind aktuell in rechtsradikalen Netzwerken aktiv. Noch immer hält die Geschichtswerkstatt den Kontakt nach Thal, hat die Stadt Marburg und inzwischen auch die Universität motiviert, sich am jährlichen Gedenken zu beteiligen. Schließlich: Zum Stadtjubiläum 2022 förderte die Stadt Marburg die Konzeption eines Stadtrundgangs "Braunes Marburg", den Gesa Coordes erstellt hat. Die Geschichtswerkstatt lieferte die Hintergrundtexte, die über den inzwischen vergriffenen Flyer online einsehbar sind. Anfragen an uns zu Führungen zum "Braunen Marburg" haben stark zugenommen. Bemerkenswert für uns war eine Führung im letzten Jahr, in der wir uns mit Mitgliedern der jüdischen und muslimischen Gemeinden Marburgs auf diesem Rundweg austauschten – sicher ein Beitrag zum freundlichen Miteinander von Religionen und Kulturen auf der Grundlage historischen Wissens über die NS-Verbrechen in Marburg. Ich komme zum Ende: Wir glauben, dass das, was unsere über 40 Jahre geleistete Erinnerungsarbeit ausmacht, weiterhin wichtig sein wird. Schluss-Strichmentalität ist weit verbreitet, autoritäres und militaristisches Denken auf dem Vormarsch, rassistische Forderungen nach sogenannter Remigration (ein viel zu positives Wort, Deportation, Verschleppung wären angemessen), Hass und Hetze in den sozialen Medien sind möglich geworden. Dagegen ist breiter Widerstand aus Zivilgesellschaft und politischen Gremien der Stadt gegen jede Menschenfeindlichkeit und zur Verteidigung der Grundrechte unserer Verfassung dringend nötig. Wir wollen auch weiterhin unseren Beitrag dazu leisten. |
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